Gesundheit!

Deutschland ist zwar Mitglied der WHO, definiert aber Gesundheitspolitik offensichtlich anders. Die Gestaltung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in unserem Land wird an den unterschiedlichsten Interessen ausgerichtet und nur ganz eingeschränkt unter dem Aspekt der Gesundheit betrachtet. So formuliert etwa die Bundeszentrale für politische Bildung: „Der Reformdruck im deutschen Ge­sundheitswesen hat deutlich zugenommen. Während noch vor wenigen Jahren nur Experten über die Finanzierbarkeit und Qualitätssicherung des Gesundheitssystems nachdachten, suchen heute viele Bürgerinnen und Bürger nach Antworten. Sie diskutieren die Frage, wie der Anstieg der Kas­senbeiträge eingedämmt werden könnte, oder streiten darüber, für welche Gesundheitsleistungen die Solidargemeinschaft aufkommen sollte und für welche nicht. Die Suche nach Antworten fällt nicht immer leicht.“ (bpb, Dossier Gesundheitspolitik) Die bpb ist eine Einrichtung des Innenminis­teriums, aber in diesen Sätzen wird deutlich, dass es nur um bereits eingetretene Krankheiten geht, wie kann man sie behandeln und wie kann man die Behandlung finanzieren. Um die Zielvor­stellung der WHO geht es in der regierungsamtlichen Gesundheitspolitik nicht. Ist deren Definition denn wirklich nur etwas für Festansprachen und Vollversammlungen, aber für den täglichen Ge­brauch nicht geeignet?

James Fowler lehrt an der Universität von San Diego in der medizinischen Fakultät und an der Ab­teilung Sozialwissenschaften. Nicholas Christakis ist Professor für Medizin und Soziologie in Har­vard. Beide zusammen haben über zwanzig Jahre eine Langzeitanalyse mit knapp 5.000 Proban­den durchgeführt. Sie haben festgestellt, dass Beziehungen, die durch eine physische Nähe ge­prägt sind, unser Verhalten und unsere Gesundheit stark prägen. Das gilt für Partner, Freunde, Nachbarn und Kollegen. Nimmt zum Beispiel der Lebenspartner zu, dann steigt das Risiko für ein eigenes Übergewicht um 37 %. Fettleibige Freunde erhöhen das Risiko sogar um 57 %. Solche Wechselwirkungen haben sie festgestellt für Depressionen, Angst, Einsamkeit, Alkoholkonsum, Essverhalten, Sport und viele andere gesundheitsrelevante Aktivitäten. (British Medical Journal 4.12.2008) Der Mensch ist ein soziales Wesen und auch seine Gesundheit ist ein Spiegelbild sei­ner sozialen Beziehungen. Deshalb macht es Sinn, bereits in den Kitas zu beginnen und es wäh­rend der gesamten Schulzeit fortzusetzen, die Kinder und Jugendlichen zu einer gesunden Le­bensweise zu erziehen. Ganz wesentlich ist es, dass sie positive Beispiele erleben und lernen, es ihnen gleich zu tun. Dies muss der erste Baustein einer wirksamen Gesundheitspolitik sein.

Gesund zu leben ist aber nicht nur eine Frage des persönlichen Verhaltens. Ebenso wesentlich sind die Lebensumstände, in die uns die Gesellschaft zwingt. In der Gesundheitsberichterstattung des Bundes heißt es: „Sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen sind durch stärkere Arbeitsbe­lastungen, schlechtere Wohnverhältnisse, vermehrten Zigarettenkonsum, häufigeres Übergewicht und größeren Bewegungsmangel einem teilweise deutlich erhöhten Krankheitsrisiko ausgesetzt. Leiden wie Schlaganfall, chronische Bronchitis, Schwindel, Rückenschmerzen und Depressionen sind in der unteren Sozialschicht sowohl bei Frauen wie Männern häufiger als in der oberen Schicht. Eine besondere Risikogruppe stellt die gewachsene Zahl der Arbeitslosen dar. Bei den 20 – 59-Jährigen leiden knapp 50 Prozent der arbeitslosen, dagegen rund 30 Prozent der erwerbstäti­gen Männer und Frauen unter gesundheitlichen Beschwerden. Dies führt bei Arbeitslosen im Ver­gleich mit Erwerbstätigen zu einer etwa doppelt so großen Zahl von Krankenhaustagen... Allein er­ziehende Mütter... leiden vermehrt unter Bronchitis, Leber- und Nierenleiden sowie psychischen Erkrankungen.“ (Kapitel 2.1, Soziale Lage und Gesundheit, 2006)

Seitdem hat sich die soziale Schieflage in Deutschland weiter verschärft. 2004 galten noch 12 Pro­zent der Deutschen nach dem Statistischen Bundesamt als arm, 2008 waren es bereits 15,5 %. Dr. Achim Regenauer, der Leiter des Kompetenzzentrums Medical Risc Research & Underwriting der Münchener Rückversicherung erklärte am 14. März 2008 im Interview mit der FAZ auf die Frage „Armut macht dick?“: „Das kann man für unser Land so sagen. Eine Rolle spielt, dass die Familien anders leben als früher. Die herkömmliche Rolle der Hausfrau ist meist nicht mehr besetzt. Früher hat sie dafür gesorgt, dass vernünftig gegessen wurde. Diese Institution ist ersetzt durch die Dönerbude, durch die Bäckereikette. Das schnelle Essen ist sehr süß, sehr fett.“ Wir möchten hinzu fügen, es ist auch das billigere Essen. Fett ist billiger als Fleisch, Zucker billiger als Gemüse. Und das ist ein wesentlicher Grund für die ungesunde Ernährung der Armen.

Als Folgeerkrankungen von Übergewicht und Fettleibigkeit benennt Prof. Dr. H.-J. Radzun, von der Abteilung Pathologie der Universität Göttingen Diabetes Mellitus, Bluthochdruck, Fettstoffwechsel­störungen, Arteriosklerose, koronare Herzkrankheit, Herzinsuffizienz, Thrombosen,Gallensteine, nächtliche und dauerhafte Atemstörungen, Gicht, Fettleber und schließlich Krebs. Letzteres mag überraschen, aber nachweislich entwickeln fettleibige Männer häufiger Dickdarm-, Enddarm und Prostatakarzinome, bei übergewichtigen Frauen häufen sich Brust- und Gallenblasenkarzinome sowie Tumoren der Gebärmutterschleimhaut. (Übergewicht und die Folgen, 2005) Das interdiszipli­näre Forum der Bundesärztekammer hat sich 2007 zuletzt mit dem Thema Adipositas beschäftigt. Prof. Dr. Rudolf Weiner, Chefarzt an der chirurgischen Klinik Frankfurt Sachsenhausen, erklärte dort: „Das Mortalitätsrisiko bei diesen Patienten steigt im Durchschnitt auf das zwei- bis dreifache der Normalbevölkerung. Die Lebenserwartung vermindert sich dadurch für übergewichtige Männer um bis zu acht Jahre, für übergewichtige Frauen um bis zu sechs Jahre.“ 2006 waren bereits 15 % der Kinder übergewichtig, fünfzig Prozent mehr als Anfang der neunziger Jahre. Die Zahl der adipösen Kinder und Jugendlichen hat sich im gleichen Zeitraum sogar auf 6,3 % verdoppelt. Je 30 % dieser Kinder hatten bereits eine Fettlebererkrankung oder litten am metabolischen Syndrom (Risikofaktor für koronare Herzkrankheiten). 25 Prozent der Kinder hatten bereits orthopädische Folgeerkrankungen und ein Prozent litt an „Altersdiabetes“. (Bundes-Gesundheitssurvey des Ro­bert-Koch-Instituts im Auftrag der Bundesregierung) Die Folgekosten bezifferte die Bundesärzte­kammer bereits 2007 auf 6 Prozent aller Gesundheitskosten, Tendenz steigend. Diese sechs Pro­zent haben im Jahr 2008 schon 14,2 Milliarden Euro ausgemacht. Und das sind allein die medizini­schen Kosten. Kosten durch Frühverrentung wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit, Kosten des Arbeitsausfalls,  gesellschaftliche Folgekosten der frühen Todesfälle, all das ist dabei noch nicht berücksichtigt. Die Einführung einer Mindestsicherung von 1.000 Euro etwa für Arbeitslose, für Rentner sowie Schüler und Studenten wäre eine Investition, die bei den Gesundheitskosten mehr einsparen würde, als sie kosten würde, weil sie eine gesündere Lebensweise ermöglicht. Die Be­kämpfung der Armut ist somit ein zweiter wesentlicher Baustein einer erfolgreichen Gesundheits­politik.

Armut ist heute aber nicht mehr nur das Schicksal derer, die keine Arbeit haben. Ein Stundenlohn von 4,32 Euro für Wach- und Kontrollpersonal in Thüringen bringt bei einer 40-Stunden-Woche ge­rade mal 736,56 Euro brutto im Monat. Die Bäckerei- oder Konditoreiverkäuferin in Brandenburg mit ihrem tariflichen Stundenlohn von 4,98 Euro kommt, selbst wenn sie Vollzeitbeschäftigt ist, nur auf knapp 850 Euro brutto im Monat und auch der Hoteldiener auf Rügen hat nur 23 Euro mehr im Monat, wenn er tariflich bezahlt wird. Aber 8,5 Prozent der Männer und 45,3 Prozent der Frauen haben schon 2007 freiwillig oder gezwungenermaßen in Teilzeit gearbeitet. Da bleibt dann noch deutlich weniger zum Leben. Wenn aber selbst Vollzeitarbeit nicht vor Armut schützt, dann werden auch Lohn- und Gehaltserhöhungen zu einem Mittel der Gesundheitspolitik, ebenso wie die Schaf­fung eines gesetzlichen Mindestlohns.

Nächstes Problem ist die Arbeitslosigkeit. Wir haben oben aus dem Gesundheitsbericht des Bun­des erfahren, dass Arbeitslose doppelt so lang im Krankenhaus liegen wie Erwerbstätige. Ein Grund ist auch bei den Arbeitslosen selbstverständlich das fehlende Geld, die Armut. Es gibt aber einen weiteren Grund. In unserer Gesellschaft beurteilen wir unsere Mitmenschen sehr stark nach ihrem beruflichen Erfolg. Wenn wir jemand vorstellen, dann folgen nach dem Namen keine Aussa­gen wie „ein fröhlicher Mensch“, „eine nachdenkliche Frau“ oder „ein sportlicher Mann“, sondern dann folgt die Berufsbezeichnung Versicherungsangestellter, Lehrerin, Ingenieur. Muss aber je­mand auf die Frage, was er denn macht, antworten „ich bin arbeitslos“, dann fragen wir uns sehr schnell, was denn mit diesem Menschen nicht stimmt, dass er arbeitslos geworden ist. Extrem wird es, wenn Jugendliche nach der Schule weder einen Ausbildungsplatz, noch eine Arbeitsstelle fin­den. Sie haben nicht einmal die Möglichkeit, ihre Arbeit zu verlieren, weil sie nie eine bekommen haben. Auf die Frage „was bist du?“ wäre die korrekte Antwort „ehemaliger Schüler“ oder ganz ein­fach gesprochen „nichts“. Selbstverständlich ist es eine große Belastung, wenn man eine solche Einschätzung von seinen Mitmenschen erfährt. Diese Belastung führt in die Krankheit. Aber es sind nicht nur die Mitmenschen, sondern es ist auch das Selbstbewusstsein: „Ich bin nichts, ich habe versagt.“ Und dieses Selbstbewusstsein belastet noch stärker und verschlimmert den Gesundheitszustand weiter.

Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit waren im August 2011 knapp drei Millionen Menschen oder 7 % der Erwerbsbevölkerung in Deutschland arbeitslos gemeldet. Nicht mit gerechnet werden bei den Arbeitslosenzahlen: Arbeitslose, die älter als 58 Jahre sind, ein-Euro-Jobber, Menschen in Fremdförderung, Menschen in Bürgerarbeit, in beruflicher Weiterbildung, Bewerbungstraining,  oder in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, diejenigen, die einen Beschäftigungszuschuss erhalten und kranke Arbeitslose. Nach dem Augustbericht der Bundesagentur waren das 1.012.257 Men­schen (Seite 67), die Gesamtzahl der Arbeitslosen lag damit exakt bei 3.957.257, die Quote nicht bei 7 sondern bei 9,4 %.

Arbeitszeit

unter 35 Std.

35 – 39,9 Std.

40 – 47,9 Std.

ab 48 Std.

vertraglich

27,6%

37,2%

33,6%

1,7%

tatsächlich

23,7%

15,3%

45,5%

15,6%

mit Nebentätigkeit

24,3%

13,4%

40,9%

21,4%

Quelle: Bermann, Brenscheidt, Siefer „Arbeitsbedingungen in Deutschland – Belastung, Anforde­rungen und Gesundheit“,  Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Juli 2007

Bei der Untersuchung ist aufgefallen, dass sogar 8,1 % der Befragten mindestens 60 Stunden in der Woche arbeiten. Während die Einen krank werden, weil sie aus dem Arbeitsleben ausgeson­dert wurden, führt bei Anderen die Überbeanspruchung durch zu lange Arbeitszeiten zu gesund­heitlichen Schäden. Natürlich ist es zu einfach zu sagen, wo Einer sechzig Stunden arbeitet kön­nen auch Zwei eine Dreißig-Stunden-Woche leisten. Trotzdem zeigen die Zahlen, dass eine ge­rechtere Verteilung der vorhandenen Arbeit ebenfalls ein taugliches Mittel einer Gesundheitspolitik ist.

Und schließlich spielen die Arbeitsbedingungen eine entscheidende Rolle. Hier die Liste der Punk­te, die die meisten Befragten der eben genannten Untersuchung als belastend wahrgenommen ha­ben:

Belastung durch...

wahrgenommen in %

an Grenzen der Leistungsfähigkeit gehen

69,2

bei der Arbeit gestört, unterbrochen (Kollegen, schlechtes Material, Ma­schinenstörungen, Telefon)

59,8

Termin- und Leistungsdruck

59,4

Stückzahl, Mindestleistung, Zeit vorgeschrieben

45,0

kleiner Fehler – großer finanzieller Verlust

44,6

sehr schnell arbeiten

42,1

nicht gelerntes / nicht beherrschtes wird verlangt

39,5

Arbeitsdurchführung im Einzelnen vorgeschrieben

29,7

verschiedene Arbeiten / Vorgänge gleichzeitig im Auge behalten

26,5

 

Und daraus resultieren bei den Befragten die folgenden gesundheitlichen Probleme:

Gesundheitliche Beschwerden

in %

Schmerzen im Nacken-, Schulterbereich

46,1

allgemeine Müdigkeit, Mattheit, Erschöpfung

42,7

Schmerzen im unteren Rücken, Kreuzschmerzen

42,6

Kopfschmerzen

28,9

Nervosität, Reizbarkeit

27,3

Schmerzen in Armen und Beinen

20,4

Schmerzen in den Beinen, Füßen, geschwollene Beine

20,2

Nächtliche Schlafstörungen

19,8

Augenbeschwerden (Brennen, Schmerzen, Rötung, Jucken, Tränen)

19,2

Schmerzen in den Knien

18,4

Niedergeschlagenheit

18,3

Hörverschlechterung, Ohrgeräusche

12,6

Laufen der Nase oder Niesreiz

12,1

Schmerzen in der Hüfte

11,1

Magen- oder Verdauungsbeschwerden

10,3

Hautreizungen, Juckreiz

8,2

Husten

7,4

Burnout

7,1

Herzschmerzen, Stiche, Schmerzen in der Brust

5,4

Schwindelgefühl

4,8

Depression

4,1

Atemnot

2,7

andere Beschwerden

2,8

 

Selbstverständlich sind in diesem Katalog Mehrfachnennungen enthalten. Trotzdem zeigt die Viel­zahl der Beschwerden (3,9 pro Befragtem), dass es um die Gesundheit der arbeitenden Menschen sehr schlecht bestellt ist. Während wir auf der einen Seite feststellen mussten, dass Arbeitslosig­keit in die Krankheit führt, müssen wir nun sehen, dass Arbeit krank macht. Trotzdem bieten laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin nur ein knappes Drittel der Betriebe Maßnah­men der Gesundheitsförderung an. Und dabei dürfte es sich in Mehrzahl noch um Maßnahmen handeln, die helfen sollen, einseitig Belastungen auszugleichen, die aber nicht darauf abzielen, die Arbeitsbedingungen selbst zu ändern.

Die Liste der genannten Belastungen zeigt deutlich eine Veränderung der Arbeitsprozesse. Im Mit­telpunkt steht nicht mehr die körperliche Belastung durch die Schwere der Arbeit, sondern die Rah­menbedingungen, die die Chefs setzen: Sie fordern zu viele Ergebnisse in kürzester Zeit, haben inzwischen jede Lücke im Arbeitstag ausgefüllt und dadurch erreicht, dass ständig an die Grenze der Leistungsfähigkeit gegangen werden muss, verzeihen nicht den kleinsten Fehler, sorgen aber nicht dafür, dass die Arbeit ungestört erledigt werden kann.

Das führt zu einer Zunahme vor allem der psychischen Erkrankungen der Beschäftigten, auch wenn das die Liste der Bundesanstalt für Arbeitsschutz nicht direkt erkennen lässt. Hier tauchen nur die Depression mit 4,1 % und der Burnout mit 7,1 % auf. Ausschlaggebend für diese niedrigen Zahlen ist die Tabuisierung psychischer Krankheiten. Schwindelgefühl, Magenbeschwerden, Schmerzen in der Brust, sind Beschwerden die sich leichter aussprechen lassen, hinter denen sich aber oft psychische Erkrankungen verbergen. Nach Angaben von Spectrum K, dem Gemein­schaftsunternehmen der Betriebskrankenkassen, haben psychische Erkrankungen bei Männern in den letzten 30 Jahren um 112 Prozent zugenommen, bei Frauen sogar um 115 %. Und der Trend ist ungebrochen. Die Techniker Krankenkasse meldete am 11. Februar 2011, dass bei ihren Mit­gliedern allein im Jahr 2010 die Zahl der Krankheitstage wegen psychischer Erkrankungen um 14 % gestiegen ist. Antje Ducki von der Beuth Hochschule für Technik in Berlin erklärte anlässlich der Vorstellung des Fehlzeiten-Report 2011 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK: „Die Arbeitsin­tensität hat zugenommen. Arbeitnehmer müssen in immer kürzeren Zeitintervallen immer mehr leisten.“ Neben der Arbeitsverdichtung sieht sie den Grund für die Erkrankungen auch in einer feh­lenden „Lobkultur“. 54,5 Prozent der im Rahmen dieser Studie befragten Mitarbeiter nehmen Lob von ihren Vorgesetzten nur selten oder nie wahr. 41,5 Prozent der Befragten sagten zusätzlich, dass ihre Meinung vom Vorgesetzten bei wichtigen Entscheidungen nicht beachtet wird.

Damit haben wir einen Dreiklang als Krankheitsauslöser: Es muss immer mehr geschafft werden, ohne Rücksicht auf die dauerhafte Leistungsfähigkeit. Die Beschäftigten werden für das Arbeitser­gebnis alleine verantwortlich gemacht. Sie dürfen aber ihre Meinung nicht oder zu wenig in die Ar­beit und ihre Gestaltung einbringen. In vielen Fällen kommt dazu, dass der Anspruch der Beschäf­tigten an die eigene Arbeit und die Realität immer mehr auseinander klaffen. Eine Pflegekraft hat diesen Beruf in der Regel ergriffen, um kranken Menschen zu helfen. Zu wenig Personal, zu lange Arbeitszeiten lassen das aber oft nicht zu. Die Pflegekräfte selbst sind diesem Widerspruch hilflos ausgeliefert und fühlen sich doch dafür verantwortlich. Das macht krank. Der französische Soziolo­ge Alain Ehrenberg machte als Quelle der Depression den modernen Widerspruch „nichts ist wirk­lich verboten, nichts ist wirklich möglich“ aus. (Das erschöpfte Selbst, S.17) Im heutigen Arbeitsle­ben bedeutet da, Selbstverantwortung und Selbstorganisation der Beschäftigten werden groß ge­schrieben. Deshalb fühlen sich alle deutlich stärker für ihre Arbeitsergebnisse verantwortlich, als das noch vor dreißig Jahren der Fall war. Gleichzeitig werden ihnen aber von der Firmenleitung so enge Bedingungen vorgegeben, dass sie ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht werden können.

So kann auch nicht überraschen, dass die Bundes Psychotherapeutenkammer als ihre Hauptpati­entengruppen Sozialarbeiter, Krankenpflegepersonal, Verkäufer, Bürokräfte, Telefonisten und Leh­rer nennt. Über die Arbeit in den modernen Callcentern muss man sicher nicht lange nachdenken, um zu erkennen, dass sie krank macht. Verkäufer dürfen in vielen Fällen nicht auf die Bedürfnisse der Kunden reagieren, sondern müssen das verkaufen, was der Chef gerade aufs Programm ge­setzt hat. In den sozialen Berufen geht es in erster Linie darum entweder mit zu wenig Geld, das zur Verfügung steht über die Runden zu kommen oder es muss sogar noch Gewinn erwirtschaftet werden. Einfach nur den Menschen helfen, gilt als antiquiert.

Schließlich dürfte die Angst um den Arbeitsplatz ein weiterer Grund für die Zunahme psychischer Krankheiten sein. Noch vor wenigen Jahrzehnten fühlten sich die Beschäftigten in den meisten Branchen sicher. Hatten sie einen Arbeitgeber und es gefiel ihnen dort, konnten sie in der Regel davon ausgehen, dass sie dort bis zur Rente blieben. Das hat sich grundlegend verändert. Da wird ein Arbeitsplatz mal schnell von Hamburg nach München verlegt und der Beschäftigte kann nicht mit, zum Beispiel weil er Familie hat. Oder es geht gleich ins Ausland. Kaum noch jemand erhält bei der Einstellung einen unbefristeten Arbeitsvertrag und manchmal reiht sich auch Befristung an Befristung. Schon ein Quartal, in dem kein Gewinn erzielt wird, ist ein hinreichender Grund für Ar­beitslosigkeit. 

Kommen wir zurück zu unserem Ausgangspunkt. Gesundheit wird nicht nur deshalb immer teurer, weil neue Geräte und Arzneien entwickelt werden. Es ist auch nicht einfach deshalb mehr Geld notwendig, weil die Menschen immer älter werden. Nein, unsere Gesellschaft entwickelt immer neue gesundheitliche Belastungen und sorgt damit dafür dass wir immer kranker werden. Wenn wir vor diesem Hintergrund „die Frage (diskutieren), wie der Anstieg der Kassenbeiträge einge­dämmt werden könnte, oder streiten darüber, für welche Gesundheitsleistungen die Solidarge­meinschaft aufkommen sollte und für welche nicht“ (Bundeszentrale für politische Bildung), dann werden wir auch in Zukunft alle paar Jahre eine neue „Gesundheitsreform“ brauchen. Alle Konzep­te, die allein an der Finanzierung ansetzen, wie es etwa die Befürworter der Bürgerversicherung tun, schaffen keine Lösung. Nicht alle Ursachen für Krankheiten haben wir im Griff. Um so mehr muss es aber unsere Verpflichtung sein, die Ursachen abzustellen, über die wir entscheiden kön­nen.

Das bedeutet:

·         Einführung einer Gesundheitserziehung, die sich an der Definition der Weltgesundheitsor­ganisation orientiert.

·         Reduzierung der Arbeitslosigkeit durch gerechtere Verteilung der Arbeit.

·         Bekämpfung der Armut durch Einführung einer ausreichenden Mindestsicherung.

·         Einführung eines Gesundheitsmanagements in allen Unternehmen mit der Kompetenz, Ar­beitsbedingungen zu gestalten um die Gesundheit der Beschäftigten zu erhalten.

·         Angemessene Bezahlung der Beschäftigten und Einführung gesetzlicher Mindestlöhne.

·         Gestaltungsrechte der Beschäftigten in ihrem Arbeitsalltag.

All das lässt sich selbstverständlich nicht von heute auf morgen realisieren. Die Aufhebung der Bei­tragsbemessungsgrenze in der Krankenversicherung, die Zwangsversicherung aller in einer Ein­heitskasse und selbst die Enteignung der von den privat Versicherten für ihr Alter angesparten Rücklagen sind da leichter umzusetzen. Aber sie werden nichts ändern. Spätestens in wenigen Jahren werden wir dann feststellen, alles ist ja noch schlimmer gekommen. Wer auf Dauer sicher stellen will, dass alle Menschen nicht nur Anspruch darauf haben, sondern diesen auch realisieren können, dass ihnen alle medizinischen Leistungen offen stehen, der muss unsere Lebensbedin­gungen so ändern, dass wir länger und besser gesund bleiben. 

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